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Thomas S. Monson

Balsam aus Gilead

Boyd K. Packer

 

 

Oktober 1977

 

Ich möchte mich an all die wenden, die große Sorgen haben, ruhelos oder verzweifelt sind und den inneren Frieden verloren haben.

 

Die Bibel berichtet von einem Balsam, der aus Gilead, jenseits des Jordan kam und der heilte und linderte. Er wurde wahrscheinlich aus einem Baum oder Strauch gewonnen und war eine wichtige Handelsware der antiken Welt. Dieser Balsam wurde zum Symbol für die Kraft, zu heilen und zu lindern.

 

Es gibt auch ein Gedicht darüber: „Von Gilead, da kommt ein Balsam her, der die Wunde wieder heilt, von der Seele nimmt er die Sündenlast schwer, daß Friede wieder unter uns weilt 1 ."

 

Erst kürzlich fragte ich einen praktischen Arzt, der viele Familien als Hausarzt zu betreuen hat, wieviel Zeit er verbringe, physische Krankheiten zu behandeln. Nach einigem Nachdenken gab er mir zur Antwort: ,,Nicht mehr als 20 Prozent. Alles übrige sind Störungen, die zwar sehr stark den Gesundheitszustand meiner Patienten beeinflussen, aber ihren Ursprung nicht im Körper haben. Diese physischen Störungen, meinte er, ,,sind bloß Symptome psychischer Leiden."

 

In der jüngsten Vergangenheit ist es dem Menschen gelungen, Heilmittel für die meisten schweren Krankheiten zu finden oder sie überhaupt auszurotten. Einige sehr ernste gibt es noch immer, aber wir können gegen die meisten von ihnen etwas unternehmen.

 

Es gibt etwas anderes in uns, was wir zwar nicht anfassen können, was aber genauso wirklich wie unser Körper ist. Dieser unsichtbare Teil wird als Seele, Gefühl, Verstand, Temperament und mit anderen Worten bezeichnet. Sehr selten bezeichnet man ihn als Geist.

 

Doch der Mensch hat einen Geist ; dies zu ignorieren, hieße an der Wahrheit vorbeigehen. Es gibt viele geistige Störungen und geistige Krankheiten, die großes Leiden verursachen können.

 

Der Körper und der Geist des Menschen sind miteinander verbunden. Wenn nun Störungen auftreten, ist es oft sehr schwer, die Ursache herauszufinden.

 

Die grundlegenden Gesundheitsregeln — ausreichende Ruhe, richtige Ernährung, körperliche Ertüchtigung und wessen man sich enthalten soll — gelten für uns alle. Wenn man diese Regeln mißachtet, muß man eines Tages für seine Torheit bezahlen.

 

Es gibt aber auch für die geistige Gesundheit Regeln, die man nicht mißachten kann, will man nicht Unheil über sich bringen.

 

Jeder muß, wenn auch meist nur vorübergehend, eine körperliche Krankheit durchmachen. Jeder mag hie und da an einer geistigen Störung leiden. Zu viele jedoch sind leider geistig chronisch krank.

 

So muß das nicht bleiben. Wir können lernen, wie wir uns geistig nicht infizieren und einen guten geistigen Gesundheitszustand bewahren. Auch wenn wir ein ernsthaftes körperliches Gebrechen haben, so können wir doch geistig gesund sein.

 

Denen, die unglücklich sind, die Kummer haben, unter Schamgefühl leiden, wenn Eifersucht, Mißgunst oder Enttäuschung die Seele zerfressen, will ich etwas erzählen.

 

Irgendwo in der Nähe Ihres Wohnplatzes gibt es ein ungenutztes Stück Land. Angrenzende Flächen sind wohlgepflegt, aber dieses Stück Erde ist immer voll Unkraut.

 

Ein Weg führt hindurch, und es ist ein Sammelplatz für Abfall. Zuerst hat jemand Gartenabfälle hingeworfen. Das hat noch niemanden gestört. Dann hat jemand etwas Holz von einem benachbarten Hof hinzugefügt. Dazu kamen Papier, alte Zeitungen und ein Plastiksack, und schließlich wurden Konservenbüchsen und alte Flaschen hingeworfen. Fertig war der Müllplatz.

 

Das haben die Nachbarn nicht beabsichtigt. Doch etwas von hier und von da hat dazu beigetragen.

Dieses Stückchen Erde ähnelt dem geistigen Zustand so vieler Menschen. Wir lassen unseren Geist verkümmern und geben ihn schlechten Einflüssen von draußen preis. Was man hier ablädt, behalten wir.

 

Wir würden nicht wissentlich zulassen, daß jeder Mist auf unsere Gedanken ablädt, besonders keine Konservendosen und alte Flaschen. Aber wenn wir einmal Gartenabfälle und alte Zeitungen aufgenommen haben, erscheint uns das andere auf einmal gar nicht so schlimm. Unser Geist kann zu einem großen Abfallhaufen werden - - auf dem sich immer mehr schmutzige Gedanken ansammeln.

Vorjahren habe ich im Geist Warnungstafeln aufgestellt. Klar und deutlich steht dort zu lesen: „Betreten verboten!" „Müllabladen verboten!" Gelegentlich mußte ich sie anderen klar und unmißverständlich zeigen.

 

Ich möchte nichts in meine Gedanken kommen lassen, was nicht nützlich oder wertvoll ist. Ich bin genug beschäftigt, das Unkraut zu bekämpfen. Ich brauche nicht noch Zusätzliches, was meine Gedanken auf Unschönes richtet.

 

Viele dieser Gedanken habe ich aus meinem Leben verbannt. Gelegentlich habe ich sie über den Zaun zurückgeworfen, wenn ich es tun konnte, ohne andere zu verletzen.

 

Manche mußte ich viele Male von meinem Besitz vertreiben, bevor sie endgültig draußen blieben. Es gelang mir dies erst, bis ich etwas Erbauliches an ihre Stelle gesetzt habe.

 

Ich möchte nicht aus meinem Geist eine Stätte für gemeine Vorstellungen und Gedanken machen. Ebenso haben Enttäuschungen, Verbitterung, Neid, Gemeinheit, Haß, Verzweiflung, Kummer und Eifersucht keinen Platz darin.

 

Wenn Sie sich damit aufreiben, ist es Zeit, den Platz zu säubern. Werfen Sie allen Unrat hinaus! Misten Sie aus! Stellen Sie eine Tafel auf „Betreten verboten" und eine „Müllabladen verboten", und legen Sie sich Selbstzucht auf.

 

Behalten Sie nichts, was Sie nicht erbaut. Das erste, was ein Arzt mit einer  Wunde macht, ist, sie zu reinigen. Er entfernt alle Fremdkörper und unterbindet Infektion — wie sehr es auch schmerzen mag.

Wenn Sie das einmal mit Ihrem Geist getan haben, werden Sie eine ganz andere Perspektive bekommen. Sie werden weniger Sorgen haben. Sorgen können einen leicht aus der Bahn werfen.

Der folgende Ausspruch eines Mannes enthält folgende Wahrheit: „Sie können mir nicht sagen, daß es nichts hülfe, sich Sorgen zu machen. Das, worüber ich mir Sorgen mache, geschieht niemals."

Vor einigen Jahren lehrte mich ein Mann, den ich sehr bewunderte, sehr viel. Er war einer der besten Männer, die ich je gekannt habe. Er war fest und ruhig und besaß eine große geistige Stärke, an der sich viele aufrichteten.

 

Er verstand es, anderen, die in Not waren, beizustehen. Oft wurde ich Zeuge, wenn er Kranke oder anders in Not Geratene segnete. Sein Leben hatte er in den Dienst anderer gestellt, sowohl in der Kirche als auch im Gemeinwesen.

 

Er war Missionspräsident gewesen und freute sich schon auf die alljährliche Versammlung der zurückgekehrten Missionare.

 

Als er älter wurde, war er nicht mehr in der Lage, nachts Auto zu fahren. Ich bot ihm deshalb an, ihn zu dem Treffen zu bringen.

 

Diese einfache Geste wurde tausendfach belohnt. Einmal, als wir allein waren, ergab es sich, daß er mir aus seinem Leben erzählte. Obwohl ich geglaubt hatte, ihn zu kennen, erzählte er mir etwas, was ich von ihm nie für möglich gehalten hätte.

 

Er wuchs in einer kleinen Gemeinde auf. Irgendwann in seiner Jugend hatte er den Wunsch, etwas Besonderes zu werden. Obwohl er zu kämpfen hatte, gelang es ihm, sich eine gute Ausbildung anzueignen. Er heiratete eine reizende junge Frau; alles schien in bester Ordnung. Er hatte eine gute Anstellung, und eine glanzvolle Zukunft lag vor ihm. Sie liebten einander sehr, und sie erwarteten ihr erstes Kind.

 

In der Nacht der bevorstehenden Niederkunft traten plötzlich Komplikationen auf.

Der einzige Arzt war irgendwo auf dem Land und machte Krankenbesuche. Sie konnten ihn jedenfalls nicht erreichen. Die Geburtswehen hatten eingesetzt, und nach vielen Stunden war der Zustand der werdenden Mutter kritisch und verzweifelt.

 

Endlich kam der Arzt. Er sah sofort den Notfall, handelte rasch und hatte bald alles unter Kontrolle. Das Baby war geboren, und die Krise schien vorüber.

 

Einige Tage später starb die junge Mutter an derselben Infektion, die der Arzt bei einem anderen Patienten behandelt hatte. Die Welt meines Freundes lag in Trümmern. Alles war nun aus den Fugen geraten. Er hatte das, was ihm am teuersten war, seine Frau, verloren. Es war ihm unmöglich, auf das Kind aufzupassen und zu gleicher Zeit seiner Arbeit nachzukommen.

 

Die Wochen vergingen, und seine Verzweiflung wurde immer größer. ,, Diesem Arzt sollte zu praktizieren verboten werden", sagte er sich. ,,Er übertrug auf meine Frau diese Infektion; wäre er vorsichtiger gewesen, würde sie heute noch leben."

 

Er nährte nur diesen Gedanken, und seine Verbitterung nahm bedrohliche Formen an. Dann, eines Nachts, klopfte jemand an seine Tür. Ein kleiner Junge sagte nur:

„Papa möchte, daß Sie zu uns kommen. Er möchte mit Ihnen sprechen."

 

„Papa" war der Pfahlpräsident. Ein trauernder, gebrochener junger Mann kam, seinen geistigen Führer zu sehen. Dieser war ein aufmerksamer Beobachter gewesen und hatte ihm einiges zu sagen.

Der Ratschlag dieses weisen Dieners des Herrn war einfach: ,,John, laß das. Du kannst sie durch nichts zurückbringen. Was immer du unternimmst, es macht die Sache nur noch schlimmer. John, laß es sein."

 

Mein Freund sagte mir, daß dies seine Prüfung, sein Gethsemane gewesen war. Wie konnte er es lassen? Ein furchtbares Unglück war geschehen, und irgendjemand mußte dafür geradestehen. Verzweifelt kämpfte er mit sich selbst, um wieder Herr über sich zu werden. Das schaffte er nicht auf einmal. Aber er beschloß zu gehorchen. Gehorsam ist eine kräftige Medizin für den Geist. Sie kommt einem Allheilmittel ziemlich nahe.

 

Er entschloß sich, den Rat dieses weisen Pfahlpräsidenten zu befolgen. Er würde nichts unternehmen.

Er fuhrt fort: „Ich mußte alt werden, bis ich es endlich im richtigen Licht sah: Der Arzt war ein armer Landarzt, überarbeitet, unterbezahlt, der von einem Patienten zum anderen eilte. Er hatte nicht alle nötigen Medikamente, kein Krankenhaus und nur wenige Instrumente. Er kämpfte um das Leben seiner Patienten, und meist war er erfolgreich. Er war in einem Augenblick größter Not gekommen, als zwei Menschenleben an einem Faden hingen, und er hatte ohne Zögern gehandelt.

 

,,Ich mußte alt werden", wiederholte er, „bis ich schließlich einsichtig wurde. Beinahe hätte ich mein eigenes und das Leben anderer ruiniert".

 

Oft hatte er dem Herrn auf seinen Knien gedankt, daß ein weiser geistiger Führer ihm den einfachen Rat gegeben hatte: „John, laß es sein."

 

Auch Sie mögen vielleicht eine Übertragung geistiger Stärke nötig haben, um zu ähnlichem fähig zu sein. Bitten Sie darum. Das Beten ist eine mächtige Medizin für den Geist. Die Gebrauchsanweisung finden Sie in der Schrift.

 

Eines unserer Kirchenlieder lautet:

„Wenn dich Prüfung überfallen, Sprachst du dein Gehet? Hast auch kindlich jeden Morgen, Wenn bedrückt von schweren Sorgen, Gott du angefleht? O das Beten bringt den Frieden Dir ins Herz, und wie's auch geht, Unter Freud und Sturm hienieden. Denke ans Gebet.“2

 

Jeder von uns trägt überflüssigen Ballast mit sich herum. Wer weise ist, trägt ihn nicht zu lange mit sich. Er wird ihn los. Einigen müssen Sie loswerden, ohne das Problem wirklich lösen zu können. Einiges gehörte vielleicht in Ordnung gebracht, wird aber nicht, da Sie keinen Einfluß darauf haben.

Oft ist das, was uns belastet, kleinlich, sogar lächerlich. Sollten Sie noch immer enttäuscht sein, weil vor Jahren Tante Clara nicht zur Hochzeitsfeier gekommen ist, dann ist es Zeit, einmal erwachsen zu werden. Vergessen Sie es!

 

Wenn Sie ständig über einen Fehler, den Sie in der Vergangenheit gemacht haben, brüten, werden Sie endlich damit fertig schauen Sie in die Zukunft.

 

Glauben Sie, daß Ihr Bischof Sie ungerecht behandelt hat, z. B. bei der Berufung zu einem Amt oder der Entlassung aus einem Amt vergessen Sie es.

 

Haben Sie etwas gegen jemanden, weil er etwas getan oder unterlassen hat - vergessen Sie es.

Wir nennen das Vergebung. Es ist kräftige Medizin für den Geist. Ihre Gebrauchsanweisung finden wir in der Schrift. Ich wiederhole: John, laß es sein; Maria, laß es sein.

 

Reinigen und heilen Sie Ihre Seele, Ihr Herz und Ihren Geist. Dann wird es sein, als ob eine trübe schmutzige Filmschicht von Ihrer Umwelt genommen wird; und obwohl das Problem noch besteht, wird die Sonne wieder scheinen. Der Balken wird aus Ihrem Auge entfernt sein. Sie werden einen Frieden finden, der alles Verstehen übersteigt.

 

Eine überaus wichtige Botschaft des Evangeliums Jesu Christi ist durch einen der Namen, der dem Herrn gegeben ist, illustriert: Friedensfürst. Indem wir in seine Fußstapfen treten, können wir als einzelne und als Gemeinschaft Frieden finden.

 

Er hat gesagt: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ 3

 

Wenn Sie, meine lieben Brüder und Schwestern, betrübt sind, dann gibt es für Sie einen heilenden, lindernden Balsam, und zwar überall, nicht nur in Gilead.

 

Denken Sie daran: „Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun. Liebet ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. Und ich will den Vater bitten, und er wird euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch sei ewiglich: den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann empfangen, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr aber kennet ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch.“ 4

 

Ich gebe Zeugnis von ihm: Er ist der große Tröster, und er lebt. Im Namen Jesu Christi. Amen.

 

 

 

1 „There is a balm in Gilead". Recreational Songs, S. 130.

2 Gesangbuch, Nr. 14.

3 Johannes 14:27.

4 Johannes 14:14-18.

 

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