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Thomas S. Monson

Der Mittler

Boyd K. Packer

 

 

April 1977

 

 

Was ich heute sagen werde, könnte ich viel besser sagen, wenn wir allein miteinander sprächen, nur wir zwei. Es wäre auch leichter, wenn wir einander gut kennen würden und zueinander das Vertrauen hätten, das es uns ermöglicht, über etwas uns Heiliges zu sprechen.

 

Wenn wir einander so nah wären, würde ich Sie während meiner Worte aufmerksam betrachten, weil unser Thema so heilig ist. Wenn ich auf Ihrem Gesicht nur das leiseste Desinteresse läse, würde ich unser Gespräch schnell in andere, gewöhnliche Bahnen lenken.

 

Ich habe in meinem Amt noch nie über Wichtigeres gesprochen. Ich möchte über unseren Herrn Jesus Christus sprechen, über das, was er getan hat und darüber, warum es heute wichtig ist.

 

Es gibt die Frage: ,,Welche Bedeutung hat er für mich persönlich außer dem Einfluß, den er auf die Gesellschaft ausgeübt hat?"

 

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, möchte ich Sie zunächst fragen: ,,Haben Sie schon einmal vor großen finanziellen Problemen gestanden? Standen Sie schon einmal vor einer unerwarteten Ausgabe wie einer fälligen Hypothek, ohne zu wissen, wie Sie sie bezahlen sollten?"

 

Eine solche Erfahrung mag zwar unangenehm sein, doch ist sie, in ewiger Hinsicht betrachtet, von großem Wert. Wenn Sie sie versäumen, müssen Sie sie nachholen wie eine versäumte Unterrichtsstunde oder eine verpatzte Prüfung, um Ihre spirituelle Reife zu erlangen.

 

Solches hatte der Herr vielleicht vor Augen, als er sagte: ,,Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme{1)."

 

Jemand, dessen Zahlungsfrist schon einmal abgelaufen ist, ohne daß er wußte, wovon er seine Schulden bezahlen sollte, weiß, daß man dann hilflos um sich blickt, in der Hoffnung irgend jemanden zu finden, der einem hilft.

 

Diese Erfahrung ist deshalb so wertvoll, weil es auch im spirituellen Bereich ,,Zahlungsfristen" gibt, denen wir nicht entgehen können.

 

Um diese spirituellen Schulden zu verstehen, müssen wir uns mit so abstrakten Begriffen auseinandersetzen wie Liebe, Glaube, Gnade, Gerechtigkeit.

 

Obwohl dies stille, nicht greifbare Tugenden sind, werden Sie nicht daran zweifeln, daß sie vorhanden sind. Wir erfahren sie im Stillen, Verborgenen.

 

Wir sind so sehr daran gewöhnt, durch unsere fünf Sinne zu lernen, durch Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken, daß einige anders gar nicht mehr aufnahmefähig sind.

 

Doch gibt es spirituelles Lernen, das ganz anders vor sich geht. Manches fühlen wir einfach, nicht als ob wir es mit der Hand berührten, sondern dadurch, daß wir es verspüren.

 

Es gibt spirituelles Wissen, das in unserem Verstand als reine Intelligenz gespeichert ist, ein Wissen um Dinge, ,,die gewesen sind, die sind und die sich in Kürze ereignen werden(2)".

 

So gewiß wie unser materielles ist auch unser spirituelles Wissen. Jeder von uns, ohne Ausnahme, wird eines Tages seine spirituellen Schulden begleichen. Dann werden wir für das, was wir in der Sterblichkeit getan haben, beurteilt werden und vor einer Art Zahlungsfrist ohne Aufschub stehen.

 

Eins weiß ich gewiß: wir werden gerecht behandelt werden. Der Maßstab, nach dem die Beurteilung erfolgt, ist die ewige Gerechtigkeit.

 

Die Gerechtigkeit, Justitia, wird oft mit einer Waage in der Hand dargestellt. Ihr sind die Augen verbunden, um anzudeuten, daß sie unparteiisch entscheidet, daß sie sich nicht durch Mitgefühl für irgendjemanden leiten läßt. Die Gerechtigkeit allein kennt kein Mitgefühl, und wir werden allein nach den Maßstäben der Gerechtigkeit beurteilt werden.

 

Der Prophet Alma hat gesagt: ,,(Es) beansprucht die Gerechtigkeit den Menschen und übt das Gesetz aus, und das Gesetz erteilt die Strafe; wäre es nicht so, dann würden die Werke der Gerechtigkeit zerstört werden, und Gott würde aufhören, Gott zu sein(3)."

 

Ich möchte Ihnen empfehlen, das 42. Kapitel des Buches Alma zu lesen. Es erklärt, welche Rolle die Gerechtigkeit spielt, und zeigt auf, daß es für den Menschen keine Erlösung gäbe, würde nur der Gerechtigkeit Genüge getan.

 

Lassen Sie mich Ihnen ein Gleichnis erzählen.

 

Es war einmal ein Mann, der sich etwas sehr wünschte. Es war ihm wichtiger als alles andere in seinem Leben, und um es sich leisten zu können, machte er große Schulden.

 

Man hatte ihn vor so hohen Schulden und auch vor diesem Gläubiger gewarnt. Doch war ihm das, was er sich wünschte, so ungeheuer wichtig, und er war sich sehr sicher, daß er seine Schulden würde bezahlen können. Und so unterzeichnete er einen Vertrag. Er würde irgendwann einmal bezahlen. Er machte sich darüber nicht viel Gedanken, denn die Zahlungsfrist schien In weiter Ferne zu liegen. Er hatte, was er wollte, und das war Ihm genug.

 

Der Gläubiger verschwand nie ganz aus seinem Gedächtnis, und er tilgte ab und zu einige Raten und hatte das Gefühl, daß die Zahlungsfrist wohl nicht verstreichen würde.

 

Doch wie so oft kam dieser Tag sehr schnell, und seine Zahlungsfrist war abgelaufen. Die Schulden waren nicht getilgt. Der Gläubiger erschien und verlangte die volle Summe.

 

Erst jetzt erkannte der Mann, daß sein Gläubiger ihm nicht nur alles nehmen konnte, was er besaß, sondern ihn auch noch ins Gefängnis werfen konnte.

 

,,lch kann nicht zahlen", gestand er. ,,Dann", sagte der Gläubiger, ,, werden wir den Vertragsbestimmungen Genüge leisten, deinen Besitz auflösen, und du kommst ins Gefängnis. Du hast den Vertrag unterschrieben, jetzt tritt er In Kraft."

 

,, Kannst du mir keinen Zahlungsaufschub gewähren oder mir die Schulden erlassen?" bat ihn der Mann. ,,Laß doch Gnade walten!"

 

Der Gläubiger entgegnete Ihm: ,, Gnade ist immer so einseitig. Du hättest als einziger einen Vorteil davon. Wenn ich jetzt Gnade walten lasse, komme ich nicht zu meinem Geld. Ich verlange Gerechtigkeit. Bist du nicht für Gerechtigkeit?"

 

,,lch war für Gerechtigkeit, als ich den Vertrag unterzeichnete", sagte der Schuldner. ,,Damals war sie auf meiner Seite, und ich brauchte keine Gnade. Ich hätte auch nicht gedacht, daß ich sie einmal brauchen würde. Ich dachte, die Gerechtigkeit sei für uns beide von Vorteil."

 

,,Die Gerechtigkeit verlangt, daß du deine Schulden bezahlst oder die Strafe erduldest" erwiderte der Gläubiger. ,,So steht es im Gesetz. Dem hast du zugestimmt. Die Gnade kann die Gerechtigkeit nicht berauben."

 

Und so stand es: der eine wollte die Gerechtigkeit erfüllt sehen, der andere bat um Gnade. Wenn der eine bekam, was er wollte, mußte der andere nachgeben. Gnade und Gerechtigkeit, diese beiden ewigen Ideale scheinen einander zu widersprechen. Gibt es keine Möglichkeit, sowohl der Gerechtigkeit als auch der Gnade volle Genüge zu leisten?

 

Ja, diese Möglichkeit besteht. Es kann Gerechtigkeit herrschen und gewährt werden, doch muß dann noch jemand dazukommen, und so geschah es hier.

 

Der Schuldner hatte einen Freund, der ihm zu Hilfe kam. Er kannte den Schuldner gut und wußte, wie kurzsichtig er war. Er hielt es für töricht, daß sich sein Freund solche Schulden aufgebürdet hatte, doch wollte er ihm helfen, weil er ihn liebte. Er trat hinzu, wandte sich an den Gläubiger und sagte:

,,lch werde die Schulden bezahlen, wenn du den Schuldner aus seinem Vertrag entläßt, damit er seinen Besitz behalten kann und nicht ins Gefängnis zu gehen braucht."

 

Der Gläubiger dachte über dieses Angebot nach, und der Freund fügte hinzu: ,,Du hast Gerechtigkeit verlangt. Er kann zwar nicht zahlen, aber das werde ich übernehmen. Dann hast du deine Gerechtigkeit bekommen und kannst nicht mehr fordern, denn das wäre ungerecht."

 

Der Gläubiger erklärte sich einverstanden. Dann wandte sich der Mittler an den Schuldner: ,, Wirst du mich als Gläubiger akzeptieren, wenn ich deine Schulden bezahle?"

 

,,Ja, ja", rief der Schuldner. ,,Du bewahrst mich vor dem Gefängnis und läßt mir gegenüber Gnade walten." ,,Dann", sagte der Gläubiger, ,, wirst du deine Schulden bei mir bezahlen, und ich will die Bedingungen festsetzen. Es wird nicht leicht sein, aber es ist nicht unmöglich. Ich werde dir helfen. Du brauchst nicht ins Gefängnis zu gehen."

 

Und so erhielt der Gläubiger, was ihm zustand. Er hatte Gerechtigkeit erhalten, der Vertrag war erfüllt worden. Dem Schuldner war Gnade gewährt worden. Beiden war gedient. Das hatte der Mittler erreicht.

 

Jeder von uns hat spirituelle Schulden. Eines Tages wird unsere Zahlungsfrist ablaufen, und wir werden unsere Schulden bezahlen müssen. So leicht uns das auch jetzt erscheinen mag, wenn dieser Tag da ist, werden wir verzweifelt nach jemandem suchen, der uns zu Hilfe kommt.

 

Aufgrund ewiger Gesetze kann keine Gnade walten, wenn nicht jemand bereit und in der Lage ist, den Preis zu zahlen und uns loszukaufen.

 

Ohne einen Mittler, einen Freund, muß die Gerechtigkeit voll zum Zuge kommen. Dann wird der Preis für jede Übertretung, so klein sie auch gewesen sein mag, in voller Höhe von uns verlangt werden.

Doch es ist anders, es gibt einen Mittler.

 

,,Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus. (4)."

 

Durch ihn kann einem jeden unter uns Gnade gewährt werden, ohne daß die ewigen Gesetze der Gerechtigkeit verletzt werden.

 

Dies ist die Wurzel christlicher Lehre. Man kann viel über die Zweige wissen, die aus dieser Wurzel entspringen, doch wenn man nur die Zweige kennt, wenn sie von der Wurzel abgeschnitten sind, haben sie kein Leben, keine Erlösung in sich.

 

Die Gnade wird nicht automatisch gewährt. Sie ist bedingt durch einen Bund mit Christus. Er setzt die Bedingungen fest. Sie sind großzügig und schließen als absolut unerlässlich die Taufe durch Untertauchen zur Vergebung der Sünden ein.

 

Die ganze Menschheit kann unter dem Schutz der Gerechtigkeit stehen, und gleichzeitig kann jeder für sich Gnade erlangen.

 

Es ist sehr nützlich, dies alles zu wissen, denn so öffnet sich uns der Weg, unsere spirituellen Schulden zu tilgen.

 

Gehören Sie vielleicht zu den Bedrängten?

 

Gibt es etwas, das Sie bedrückt, wenn Sie ehrlich über Ihr Leben nachdenken?

 

Gibt es etwas, das Ihr Gewissen belastet? Tragen Sie noch an einer großen oder kleinen Schuld?

 

Wir versuchen oft, unsere Schulden loszuwerden, indem wir einander weismachen, sie seien unwesentlich. Doch tief im Innern glauben wir einander nicht. Wir glauben uns auch selbst nicht, wenn wir etwas Derartiges sagen. Wir wissen es besser.

 

Unsere Schulden sind nicht unwesentlich!

 

Alle unsere Übertretungen belasten unser spirituelles Konto, und wenn wir es nicht ausgleichen, werden wir eines Tages wie der König Belsazar gewogen und zu leicht befunden werden.

 

Es gibt einen Erlöser, einen Mittler, der bereit und in der Lage ist, dem Verlangen der Gerechtigkeit stattzugeben und denen seine Gnade zu gewähren, die Buße tun, denn ,,er gibt sich selbst als Opfer für die Sünde hin, um dem Gesetz Genüge zu leisten für alle, die zerschlagenen Herzens und zerknirschten Geistes sind; und keinem andern können die Endzwecke des Gesetzes nützen(5)".

 

Er hat bereits alle Menschen vom irdischen Tod erlöst; ohne Ausnahme werden alle auferstehen. Er ermöglicht ihnen auch die Erlösung vom spirituellen Tod, der Trennung von unserem Vater Im Himmel. Diese Erlösung kann nur denen zuteil werden, die rein sind, denn in Gottes Gegenwart kann sich nichts Unreines aufhalten.

 

Wenn die Gerechtigkeit erklärt, daß wir unserer Übertretungen wegen nicht dafür in Frage kommen, so schenkt uns die Gnade eine Bewährungszeit, in der wir Buße tun können.

 

Ich habe den Wunsch, Ihnen zu bezeugen, daß Jesus Christus lebt. Ich wollte Ihnen so einfach wie möglich erklären, was er getan hat und wer er ist.

 

Obwohl ich weiß, wie armselig bloße Worte sind, weiß ich auch, daß der Geist unsere Gefühle auch ohne Worte übermittelt.

 

Manchmal wird mir die Last der Unvollkommenheit sehr schwer, doch ich weiß, daß er lebt, und das erfüllt mich mit großer Freude.

 

An einer Stelle bin ich besonders leicht verwundbar, und zwar, wenn ich weiß, daß ich jemanden verletzt oder beleidigt habe. Dann erfahre ich, was wirkliche Pein ist.

 

Wie wunderbar ist es dann, von neuem zu erfahren, daß er lebt. Ich möchte Ihnen allen zeigen, wie wir unsere Last der Enttäuschung, der Sünde und Schuld vor ihn legen können. Seine Großzügigkeit wird alle diese Lasten von uns nehmen.

 

Wie meine Brüder vom Rat der Zwölf bin ich ein besonderer Zeuge für ihn. Ihr Zeugnis und meines entsprechen der Wahrheit. Ich liebe den Herrn, und ich liebe unseren Vater, der ihn gesandt hat.

Eliza R. Snow schrieb die folgenden inspirierten Worte, mit denen ich heute schließen möchte:

 

,, Wie groß die Liebe und Geduld am hohen Himmelsthron,

daß uns zum Trost und Heil gesandt der Herr als Menschensohn.

Sein teures Blut gab er dahin, sein Leben für die Welt;

für unsre Schuld ward Gottes Sohn als Opfer dargestellt.

Wie groß, wie herrlich und wie schön ist der Erlösungsplan,

wo Liebe, Rechtlichkeit, Geduld uns führen himmelan(6)."

 

Im Namen Jesu Christi, amen.

 

 

1)Matth. 19:24. 2)LuB88:79; siehe auch LuB 93:24 und Jak. 4:13. 3) AI. 42:22. 4) 1. Tim. 2:5. 5)2. Ne. 2:7. 6) Gesangbuch, Nr. 13.

 

 

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