top of page

Die ungeschriebene Ordnung

Boyd K. Packer

 

 

The Unwritten Order of Things, Andacht an der Brigham-Young-Universität, 15. Oktober 1996

 

Ich spreche heute in meiner Eigenschaft als Lehrer zu Ihnen. Ich bin geprägt von einem Lehrer, den ich über 50 Jahren hatte. Wie so oft ging der Einfluss dieses Lehrers weit über sein eigentliches Sachgebiet hinaus. Dr. Schaefer war Professor für Mathematik an der Washington State University in Pullman im US-Bundesstaat Washington. Er war ein unauffälliger Mensch. Seinen Vornamen habe ich vergessen, aber das, was er anlässlich unserer ersten Begegnung sagte, werde ich nie vergessen. Es war während des 2. Weltkriegs. Wir befanden uns in der Pilotenausbildung und wurden zu einem Crashkurs in Meteorologie, Wetter, Navigation, Physik,  Aerodynamik und weiteren technischen Fächern an die Universität geschickt. Wir fanden die Bezeichnung „Crashkurs“ eher unglücklich gewählt. Intensivkurs wäre uns angehenden Piloten lieber gewesen.

Der Druck war enorm, denn wer diesen Kurs nicht schaffte, konnte die Ausbildung zum Piloten nicht fortsetzen. Unter meinen Kollegen waren auch Kadetten, die schon am College studiert hatten und in der Ausbildung weiter waren als ich, der ich gerade erst die High School abgeschlossen hatte. Dr. Schaefer sollte mit uns in wenigen Wochen beinahe die gesamte Mathematik – von den Grundrechnungsarten bis hin zur Integralrechnung – durchnehmen. Ich hatte überhaupt keine Hoffnung – bis er dann den Kurs wie folgt eröffnete: „Einige von Ihnen haben schon höhere Mathematik auf dem College studiert, aber meine Aufgabe ist es, die Anfänger zu unterrichten. Ich bitte diejenigen, die sich bereits auskennen, um Geduld, während ich den Anfängern die Grundlagen vermittle.“ Aus seinen Worten und noch mehr aus seiner Art des Unterrichtens fasste ich Mut und schaffte den Kurs relativ leicht. Andernfalls wäre mir das vielleicht unmöglich gewesen.

Als ich dann Lehrer wurde, motivierte mich mein Vorbild Dr. Schaefer, mein Bestes zu tun, um die grundlegenden, einfachen Wahrheiten auf möglichst verständliche Weise zu lehren. Ich habe gemerkt, wie schwer es ist, etwas einfach darzustellen.

Einige Jahre nach dem Krieg war ich wieder an der Washington State University und traf dort Dr. Schaefer. Er konnte sich natürlich nicht mehr an mich erinnern. Ich war nur einer von hunderten von Kadetten gewesen, die er unterrichtet hatte. Ich dankte ihm für das, was er mich gelehrt hatte. Mathematik und Integralrechnung hatte ich schon lange wieder vergessen, nicht aber, dass er ein vorbildlicher Lehrer gewesen war.

Gemäß diesem Beispiel möchte ich Ihnen heute etwas über die Kirche erzählen. Was ich sage, steht nicht in den heiligen Schriften, aber es ist im Einklang mit den Grundsätzen, die dort vermittelt werden.

Ein Prinzip ist eine Wahrheit mit Bestand, ein Gesetz, eine Regel, woran man sich in seinen Entscheidungen orientieren kann. Prinzipien werden für gewöhnlich nicht bis ins kleinste Detail erklärt. Man kann sich also nach den Gegebenheiten richten und – mit dieser beständigen Wahrheit, diesem Prinzip als Anker – seinen Weg finden. Was ich Ihnen sage, steht nicht in unseren Handbüchern oder Leitfäden. Doch selbst wenn dem so wäre, haben ja die meisten von Ihnen kein Handbuch – nicht das MP- oder FHV-Handbuch oder ein anderes –, weil die nur den Führungskräften gegeben werden.

Ich möchte über das sprechen, was ich die „ungeschriebene Ordnung“ nenne. Mein Unterricht könnte auch heißen: „Was in der Kirche ganz normal ist und was jedes Mitglied wissen sollte.“ Obwohl es also ganz normal ist, ist es doch immens wichtig. Wir unterstellen irgendwie, dass jeder schon weiß, was ganz normal ist. Wenn Sie es wissen, dann müssen Sie es durch Beobachtung und eigene Erfahrung gelernt haben, denn es ist nirgends aufgeschrieben und wird auch nicht im Unterricht gelehrt. Wenn ich nun also fortfahre und Sie bereits alles wissen, dann seien Sie bitte geduldig, während ich die Anfänger unterrichte. Machen Sie inzwischen ein Nickerchen.

Das Fundament von Wissen und Zeugnis ändert sich nie – nämlich das Zeugnis, dass Gott der Vater lebt, dass Jesus der Messias ist, dass uns der Heilige Geist inspiriert, dass die Wiederherstellung stattgefunden hat, dass uns das Evangelium in seiner Fülle und die gleiche Organisation, wie sie in der Urkirche bestanden hat, offenbart worden sind. Das wird überall und immer gelehrt – im Unterricht, in den heiligen Schriften, in den Handbüchern und Leitfäden – einfach bei allem, was wir tun.

Auch die grundlegenden Lehren und Anweisungen in Bezug auf die Organisation der Kirche sind in den heiligen Schriften zu finden. Daneben erfahren wir noch aus einer weiteren Quelle, wie die Kirche funktioniert: Wir lernen nämlich aus Erfahrung und durch Beobachtung. Wenn Sie das lernen, was nicht niedergeschrieben ist, die ungeschriebene Ordnung, dann können Sie eine bessere Führungskraft sein, denn eine Führungskraft werden Sie sein. Die wichtigsten Führungspositionen sind die in der Familie – Vater, Mutter, Mann, Frau, ältere Geschwister.

Außerdem gibt es in der Kirche Führungspositionen und Möglichkeiten des Lehrens wie sonst nirgends auf Erden.

Das, worüber ich spreche, steht zwar nirgends geschrieben, aber es lässt sich leicht erlernen. Achten Sie auf die ungeschriebene Ordnung, interessieren Sie sich dafür, und Sie stellen fest, dass Ihre Fähigkeiten zunehmen und Sie für den Herrn wertvoller werden.

Bevor ich Ihnen einige Beispiele dieser ungeschriebenen Ordnung gebe, möchte ich Sie daran erinnern, dass der Herr gesagt hat: „Mein Haus ist ein Haus der Ordnung, spricht der Herr, Gott.“ (LuB 132:18; Hervorhebung hinzugefügt.) Und er sagte zu seinem Propheten: „Seht zu, dass dies alles in Weisheit und Ordnung geschieht; denn es ist nicht erforderlich, dass der Mensch schneller laufe, als er Kraft hat. Und weiter, es ist ratsam, dass er eifrig sei, auf dass er dadurch den Preis gewinne; darum muss alles in Ordnung getan werden.“ (Mosia 4:27; Hervorhebung hinzugefügt.)

Paulus wies die Korinther an: „Alles soll in Anstand und Ordnung geschehen“. (1 Korinther 14:40; Hervorhebung hinzugefügt.) Darauf kommen wir später noch einmal zu sprechen.

Das, was ich Ihnen sagen möchte, ist aber nicht so streng, dass die Kirche auseinander fällt, wenn man sich nicht immerzu strikt daran hält. Aber es setzt eine gewisse Note, es legt einen Standard der Würde und Ordnung zugrunde und macht unsere Versammlungen und unseren Unterricht – und auch unsere Aktivitäten – einfach besser. Wenn Sie das wissen, wird auch Ihr Leben besser.

Unsere Versammlungen müssen so geleitet werden, dass die Mitglieder geistig erquickt werden und bei den Herausforderungen, die das Leben an sie stellt, im Einklang mit dem Geist bleiben. Wir müssen Bedingungen schaffen, unter denen die Mitglieder durch Inspiration ihre Probleme selbst lösen können. Es gibt einiges Einfache, das dazu beiträgt, während anderes dem entgegensteht. Alma lehrt: „Durch Kleines und Einfaches wird Großes zustande gebracht; und kleine Mittel beschämen in vielen Fällen die Weisen.“ (Alma 37:6.)

Mein erstes Beispiel dieser ungeschriebenen Ordnung ist ein ganz einfaches: Wer über eine Versammlung präsidiert, muss auf dem Podium und in der Nähe dessen sitzen, der die Leitung hat. Es ist nämlich nicht ganz leicht, über eine Versammlung zu präsidieren, wenn man mitten unter den Versammelten sitzt. Derjenige, der präsidiert, ist für die Leitung der Versammlung verantwortlich und hat das Recht und die Pflicht, Inspiration zu empfangen. Ihm kann eingegeben werden, etwas, was in der Versammlung geschieht, zu ändern oder zu berichtigen. Dies gilt ebenso für eine HO-Versammlung, über die eine Schwester präsidiert, wie für jede andere Versammlung.

Ein neuer Pfahlpräsident fragt manchmal: „Muss ich denn in jeder Versammlung im Pfahl auf dem Podium Platz nehmen? Kann ich nicht bei meiner Familie sitzen?“ Ich sage ihm dann: „Wenn Sie präsidieren, müssen Sie auf dem Podium sitzen.“ Ich würde ihm gerne sagen (aber das tu ich nicht): „Ich darf es ja auch nicht; warum sollten Sie es also dürfen?“

Ein weiteres Beispiel: Sehen Sie sich die Erste Präsidentschaft an – der Erste Ratgeber sitzt immer rechts vom Präsidenten, der Zweite Ratgeber sitzt links. Dies ist ein Beispiel dafür, wie etwas „in Anstand und Ordnung“ geschieht, wie Paulus es ausdrückt. Normalerweise, aber nicht immer, spricht der präsidierende Beamte am Ende der Versammlung. Er kann das eine oder andere klarstellen oder korrigieren. Ich habe das oft am Ende einer Versammlung erlebt: „Bruder oder Schwester Sowieso hat dies und das gesagt, aber gewiss hat er (oder sie) dieses und jenes gemeint.“

Ein weiteres Beispiel: Wir streben nicht nach einer bestimmten Berufung in der Kirche, und wir bitten auch nicht darum, entlassen zu werden. Wir werden durch Inspiration zu einem Amt in der Kirche berufen. Auch wenn eine Berufung auf unbeholfene Weise ausgesprochen wird, ist es nicht klug, sie auszuschlagen. Wir gehen von der Annahme aus, dass die Berufung vom Herrn kommt. Der fünfte Glaubensartikel besagt, „dass man durch Prophezeiung und das Händeauflegen derer, die Vollmacht dazu haben, von Gott berufen werden muss, um das Evangelium zu predigen und seine heiligen Handlungen zu vollziehen“.

Falls es aufgrund der Umstände für Sie schwierig ist, weiterhin zu dienen, können Sie sich mit der Führungskraft beraten, die Sie berufen hat. Wir berufen uns nicht selbst, und wir entlassen uns auch nicht selbst. Manchmal gefällt einer Führungs- oder einer Lehrkraft ihr hohes Amt so sehr, dass sie nicht entlassen werden möchte, auch wenn sie schon lange gedient hat. Das ist dann immer ein Zeichen dafür, dass es Zeit für einen Wechsel ist.

Wir sollen tun, wozu wir berufen sind. Wir sollen die Berufung ebenso wie die Entlassung annehmen, denn sie erfolgen durch dieselbe Vollmacht. Als Präsident J. Reuben Clark als Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft berufen wurde, nachdem er viele Jahre als Erster Ratgeber gedient hatte, sagte er in der feierlichen Versammlung, in der die neue Erste Präsidentschaft zur Bestätigung vorgelegt wurde: „Im Dienst des Herrn zählt nicht, wo man dient, sondern, wie man dient. In der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage übernimmt jeder das Amt, zu dem er ordnungsgemäß berufen wird – er strebt nicht danach, und er lehnt es auch nicht ab.“ (Conference Report, April 1951, Seite 154; Hervorhebung hinzugefügt.) Damals wurde eine wertvolle Lektion in Bezug auf die ungeschriebene Ordnung gelehrt.

Ich habe vor Jahren gelernt, dass wir uns nicht aussuchen, wo wir dienen – wir nehmen einfach die Berufung an. Kurz nach meiner Hochzeit wurde ich als Pfahl-Zweitsekretär berufen. Der Bischof wollte mich aber nicht als Lehrer der Evangeliumslehreklasse entlassen. Er sagte mir, als Lehrer hätte ich weitaus mehr zu bieten als in dem unbedeutenden Amt des Pfahl-Zweitsekretärs. Aber er wusste, dass gemäß der ungeschriebenen Ordnung der Pfahlpräsident präsidierte und dass daher dessen Berufung Vorrang hatte.

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich alles in jener Berufung gelernt habe. Ich konnte miterleben, wie eine Präsidentschaft arbeitet. Ich war Zeuge, wie die Berufung und Entlassung von Pfahl- und Gemeindebeamten aufgrund von Offenbarung erfolgte. Dadurch, dass ich den Pfahlpräsidenten beobachtete, lernte ich aus Erfahrung vieles, was nicht im Handbuch steht. In der Berufung lernte ich erstmals Mitglieder der Zwölf sowie weitere führende Brüder kennen, die zu den Konferenzen kamen. Es war eine Zeit, da ich in der ungeschriebenen Ordnung geschult wurde.

Einmal saß ich mit Präsident Kimball, der, soweit ich mich erinnern kann, 19 Jahre als Pfahlsekretär gedient hat, im Flugzeug. Jemand, der damals im selben Pfahl gelebt hatte, war auch im Flugzeug. Er sagte zu mir: „Hätte ich gewusst, dass unser Pfahlsekretär einmal Präsident der Kirche wird, hätte ich ihn viel besser behandelt.“

Bruder Kimball diente einst als Zweiter Ratgeber in der Pfahlpräsidentschaft, und der damalige Pfahlsekretär zog weg. Man berief einen anderen Sekretär, doch auch dieser zog um. Dann übernahm Bruder Kimball die Aufgabe. Bruder Melvin J. Ballard kam zur Konferenz und sagte: „Sie sollten nicht Zweiter Ratgeber und Pfahlsekretär gleichzeitig sein. Bitte wählen Sie, was Sie lieber tun möchten.“ Bruder Kimball war es nicht gewohnt, sich so etwas aussuchen zu können. Er wollte, dass Bruder Ballard sich für eines entschied, aber der sagte: „Nein, Sie sagen, was Sie wollen.“ Also sagte Bruder Kimball: „Ich habe eine Schreibmaschine. [Damals hatten nur sehr wenige eine Schreibmaschine.] Ich kenne das System. Ich denke, ich kann mehr leisten, wenn ich Pfahlsekretär bleibe.“ Und so geschah es auch.

Damals erhielt der Pfahlsekretär jeden Monat einen kleinen Geldbetrag – nicht viel, aber etwas eben, um sich, wie ich annehme, Büromaterial kaufen zu können. Eine Schwester, die ihn gut kannte, schrieb ihm: „Spencer, ich bin überrascht, dass du eine Berufung einfach nur deshalb annimmst, weil du Geld dafür bekommst.“ Und sie ließ ihn wissen: „Wenn du nicht innerhalb von zwei Monaten deine Einstellung änderst, wirst du von der Kirche abfallen.“ Tja, diese Voraussage ging ein bisschen daneben, nicht wahr?

Noch ein Beispiel: Einmal präsidierte Elder Harold B. Lee über unsere Pfahlkonferenz. Zwischen den Versammlungen nahmen wir im Haus von Präsident Zundell das Mittagessen ein. Meine Frau Donna und ich kamen ein wenig später an, weil wir zuvor nach Hause gehen mussten, um nach unseren kleinen Kindern zu sehen. Elder Lee war noch einmal zu seinem Auto gegangen, um etwas zu holen, und kehrte gerade wieder zurück, als wir ankamen. Wir waren wohl sichtlich bewegt, mit einem Apostel persönlich zu sprechen und ihm die Hand zu geben. Er machte eine Geste zum Haus hin und sagte über die Pfahlpräsidentschaft, die dort zusammen war: „Das sind großartige Männer. Lernen Sie von Männern wie diesen.“ Und wieder hatte ich, diesmal durch einen Apostel, etwas von der ungeschriebenen Ordnung gelernt.

So vieles kann man einfach dadurch lernen, dass man die erfahrenen Führer in der Gemeinde und im Pfahl beobachtet. So vieles kann man dadurch lernen, dass man auf die älteren Brüder und Schwestern hört, die bereits ein Leben lang Erfahrungen in der Schule der ungeschriebenen Ordnung gesammelt haben.

Ein weiteres Beispiel: Es gibt eine Ordnung, an die wir uns halten, wenn wir jemand um Rat oder um einen Segen bitten. Es ist ganz einfach – wir wenden uns an unsere Eltern. Wenn sie nicht mehr zur Verfügung stehen, können wir auch unseren Heimlehrer um einen Segen bitten. Wenn wir Rat brauchen, wenden wir uns an den Bischof. Er kann uns eventuell auch an den für ihn zuständigen Führer verweisen, nämlich an den Pfahlpräsidenten. Aber wir wenden uns nicht an die Generalautoritäten. Wenn wir Rat brauchen, schreiben wir nicht den Generalautoritäten, und wir gehen auch nicht davon aus, dass jemand in einer prominenteren Position uns deswegen auch einen inspirierteren Segen gibt. Wenn wir allein das in der Kirche lernen könnten, würde große Macht auf uns ruhen.

Präsident Joseph F. Smith hat erklärt: Wenn in der Familie jemand krank ist, so ist es Recht und Pflicht des Vaters, zu präsidieren – selbst wenn gerade ein „Apostel oder auch ein Mitglied der Ersten Präsidentschaft der Kirche zugegen wäre“. (Gospel Doctrine, Seite 286.)

Es gibt einen einzigen autorisierten Weg, auf dem der Bischof, der Pfahlpräsident, eine Generalautorität und jeder andere in der Vollmachtslinie umgangen werden kann. Er besteht darin, dass wir zum Vater im Himmel beten. Dadurch lassen sich unsere Probleme in den meisten Fällen lösen.

Ein weiterer Grundsatz: In der Kirche erfolgt Offenbarung von oben nach unten. Offenbarung beschränkt sich normalerweise nur auf den Zuständigkeitsbereich oder die geographischen oder die gesetzten Grenzen dessen, der berufen ist. Hat beispielsweise der Bischof ein Problem zu lösen, so wird ihm keine Offenbarung dadurch zuteil, dass er sich mit dem Bischof einer anderen Gemeinde oder aus einem anderen Pfahl bespricht, mit dem

er vielleicht verwandt oder der ein Arbeitskollege von ihm ist.

Ich habe aus Erfahrung gelernt, dass Offenbarung von oben kommt und nicht von nebenan. Selbst wenn jemand nebenan noch so erfahren, alt oder geistig gesinnt erscheinen mag, so ist es doch immer besser, sich an den vorgesehenen Weg zu halten.

Grundsatz: Ein guter Führer ist auch immer ein guter Gefolgsmann. In einer Zusammenkunft mit Bischöfen fragte mich einmal ein neuberufener Bischof, der sich in seinem Amt erst noch zurechtfinden musste: „Wie bekomme ich die Menschen dazu, dass sie mir folgen? Ich habe insgesamt neun Schwestern als PV-Leiterin berufen, aber keine hat angenommen.“ In jener Versammlung herrschte eine fröhliche und angenehme Stimmung, und daher war dies der ideale Zeitpunkt für eine Unterweisung. Ich entgegnete, meiner Meinung nach habe er wohl keine dieser neun Schwestern tatsächlich „berufen“. Er habe sie wohl eher nur gefragt oder darum gebeten.

Ich sagte ihm, wenn er ernsthaft gebetet und sich mit seinen Ratgebern beraten hätte, wer die PV leiten solle, hätte die erste Schwester die Berufung angenommen. Eventuell wäre er beim Interview daraufgekommen, dass es aus dem einen oder anderen Grund nicht ratsam oder an der Zeit sei, dass diese Schwester in dieser Berufung dienen solle, und er hätte sie doch nicht berufen. Aber das wäre sicherlich nicht bei mehr als ein, zwei Schwestern der Fall gewesen. Wenn aber so viele Schwestern die Berufung abgelehnt hatten, entsprach irgendetwas nicht der Ordnung – nämlich der ungeschriebenen Ordnung.

Und weil in der Versammlung ein so guter Geist herrschte, sagte ich zu ihm: „Bischof, ich weiß noch etwas über Sie. Sie sind keiner, der sich gern führen lässt, stimmt’s? Sind Sie nicht derjenige, der immer alles in Frage stellt, worum der Pfahlpräsident seine Bischöfe bittet?“ Die anderen Bischöfe im Raum schmunzelten und nickten – genau, das war er. Er selbst schmunzelte auch und meinte, das sei wohl richtig. Ich sagte: „Vielleicht ist das der Grund, warum die Mitglieder Ihnen nicht folgen – weil Sie Ihren Führern auch nicht folgen. Ein Führer in der Kirche ist immer auch ein zuverlässiger und loyaler Gefolgsmann. So will es die Ordnung – die ungeschriebene Ordnung.“

Als ich ein junger Mann war, kam Elder Spencer W. Kimball einmal zu unserer Konferenz und erzählte uns dieses Erlebnis: Als er in Safford in Arizona Pfahlpräsident war, musste ein – wie es damals hieß – neuer Pfahl-Superintendent der Jungen Männer berufen werden. Eines Tages verließ Elder Kimball sein Büro, ging ein paar Schritte die Straße hinunter und wandte sich an den Inhaber eines Geschäftes. Er sagte: „Jack, was hältst du davon, Pfahl-Superintendent der Jungen Männer zu werden?“

Jack antwortete: „Ach, Spencer, doch nicht ich!“

Darauf sagte Spencer Kimball: „Natürlich du. Du kommst doch gut mit den Jugendlichen aus.“ Und er versuchte ihn zu überzeugen, aber der Mann lehnte ab.

Später am selben Tag, nachdem Elder Kimball eine Weile darüber gebrütet hatte, was da wohl falsch gelaufen war, kam ihm in den Sinn, was Jakob im Buch Mormon gesagt hat: „Nachdem ich zuvor vom Herrn meinen Auftrag erhalten hatte.“ (Jakob 1:17.) Er ging noch einmal zu Jack. Diesmal sprach er ihn mit „Bruder“ an und nannte ihn beim Nachnamen. Dann sagte er: „Wir müssen im Pfahl ein Amt neu besetzen. Meine Ratgeber und ich haben darüber beraten und längere Zeit gebetet. Am Sonntag sind wir alle niedergekniet und haben den Herrn um Inspiration gebeten, wer in dieses Amt berufen werden soll. Und wir haben die Eingebung empfangen, dass du berufen werden sollst. Ich bin als Diener des Herrn gekommen, um diese Berufung auszusprechen.“

Jack sagte: „Gut, Spencer, wenn du es so sagst. …“

„Genau so sage ich es.“

Sie wissen wohl, wie die Geschichte ausgegangen ist. Es hilft, wenn man sich an die rechte Ordnung hält – selbst an die ungeschriebene Ordnung.

Auf meinem Schreibtisch liegt der Brief eines Bruders, der sehr verärgert ist, weil er nicht auf die rechte Weise zu seinem Amt berufen worden ist. Er hat die Berufung angenommen und ist bereit zu dienen, aber er sagt, der Bischof habe nicht zuerst seine Frau gefragt und auch sonst nicht richtig gehandelt. In meiner Antwort werde ich versuchen, ihn etwas über die ungeschriebene Ordnung zu lehren – nämlich darüber, dass man ein wenig Geduld haben muss mit der Art und Weise, wie in der Kirche vorgegangen wird. Im ersten Abschnitt von Lehre und Bündnisse ruft der Herr einen jeden auf, „im Namen Gottes, des Herrn, ja, des Erretters der Welt“, zu sprechen (LuB 1:20). Ich werde ihm wohl sagen, dass er vielleicht auch eines Tages Bischof sein wird, beladen mit den Problemen der Gemeinde und dazu seiner eigenen Last, und ich werde ihm empfehlen, dass er jetzt das gibt, was er in so einem Fall auch gern erhalten möchte.

Ein weiterer Punkt der Ordnung: Der Bischof darf die Gestaltung der Versammlungen nicht den Mitgliedern überlassen. Er darf die Gestaltung einer Beerdigung oder der Verabschiedung eines Missionars nicht der Familie überlassen. Es entspricht nicht der rechten Ordnung, wenn die Mitglieder oder die Familien erwarten, sie könnten bestimmen, wer sprechen wird und wie lange. Natürlich kann man Vorschläge machen, aber der Bischof darf die Versammlung nicht aus der Hand geben. Wir machen uns Sorgen, dass in unseren Versammlungen so oft von der rechten Ordnung abgewichen wird.

Beerdigungen können und sollen sehr geistige, eindrucksvolle Versammlungen sein. Doch sie werden zu zwanglosen Familientreffen unter Anwesenheit der Gemeindemitglieder. Oft wird der Geist durch lustige Erzählungen oder Witze verdrängt, wo es doch an der Zeit wäre, Geistiges, ja, selbst Heiliges zu lehren.

Wenn die Familie darauf besteht, dass bei der Beerdigung mehrere Angehörige sprechen, dann hört man nur etwas über den Verstorbenen, doch nichts über das Sühnopfer, die Auferstehung und die tröstlichen Verheißungen, die in den heiligen Schriften offenbart sind. Es ist in Ordnung, wenn auf der Beerdigung ein Angehöriger spricht, aber dann sollen seine Ausführungen im Einklang mit dem Geist der Versammlung stehen.

Ich habe den Brüdern gesagt: Falls auf meiner Beerdigung jemand in seiner Ansprache über mich spricht, stehe ich auf und weise ihn zurecht. Das Evangelium muss gelehrt werden. Ich kenne keine Versammlung, in der die Versammelten eher bereit sind, durch einen Sprecher Offenbarung und Inspiration zu empfangen als bei einer Beerdigung. Dieser Vorzug wird uns genommen, weil wir die Ordnung – die ungeschriebene Ordnung – in Bezug auf den geistlichen Dienst der Kirche und den Empfang des Geistes nicht verstehen.

Der Bischof darf die Versammlungen nicht aus der Hand geben. Das gilt auch für die Verabschiedung unserer Missionare. Wir machen uns große Sorgen, weil dies jetzt zu einer Art Familientreffen unter Anwesenheit der Gemeindemitglieder geworden ist. Die tiefe geistige Schulung und Unterweisung, die dabei zustande kommen könnte, geht verloren. Wir denken einfach nicht mehr daran, dass dies eine Abendmahlsversammlung ist und dass der Bischof präsidiert.

So vieles könnte ich darüber sagen, dass man sonntags seine beste Kleidung tragen soll. Wissen Sie, was „Sonntagskleidung“ ist? Früher wusste man das. Doch jetzt sehen wir immer mehr zwanglose und sogar nachlässige Kleidung in unseren Versammlungen – selbst in der Abendmahlsversammlung, und das führt dann zu zwanglosem oder nachlässigem Verhalten.

Es stört mich, wenn ich im Programm der Abendmahlsversammlung lese, dass Susi, Willi und Toni sprechen werden. Sollte da nicht Susanne, Wilhelm oder Anton stehen? Es stört mich noch mehr, wenn wir gebeten werden, Sepp oder Karli oder Ferdi als Mitglied des Hohenrats zu bestätigen. Kann denn in einem so wichtigen Bericht nicht der vollständige Name stehen? Darin liegt eine gewisse Förmlichkeit, eine Würde, die uns andernfalls verloren geht, was uns dann teuer zu stehen kommt. Es ist schon etwas an dem, was Paulus meint, wenn er von „Anstand und Ordnung“ spricht.

Es gibt so vieles, was ich Ihnen über die ungeschriebene Ordnung sagen möchte, aber andererseits ist das etwas, was Sie selbst lernen müssen. Wenn wir Sie nur in jene Situationen bringen könnten, wo Sie beobachten können, wo Sie in diesen Belangen geschult werden, dann wissen Sie, wie die Kirche funktionieren soll und warum sie so funktioniert. Sie werden dann erkennen, dass sie sich nach den Grundsätzen richtet, die in den heiligen Schriften dargelegt sind. Wenn Sie einfach in Ihrem Verstand beständig „die Wortes des Lebens wie einen Schatz“ aufhäufen, wird der Herr Sie segnen und Ihnen „zur selben Stunde“ eingeben, was Sie sagen und tun sollen (siehe LuB 84:85). Lernen Sie etwas über dieses große Muster – über die Lehren, die uns zuteil werden, wenn wir nur beobachten und uns einbringen.

Kurz nachdem Spanien für die Evangeliumsverkündigung geöffnet worden war, war ich in Barcelona. Zwei der ersten Missionare in Spanien wurden nach Barcelona geschickt, um die Arbeit dort zu beginnen. Sie hatten Präsident Smith Griffin dringend um vierzig Stühle gebeten. Er war aber gerade in Paris, und er wusste nicht, weshalb sie vierzig Stühle haben wollten, wenn es sowieso keine Mitglieder gab. Er machte sich zwar der Kosten wegen Gedanken, aber er stellte sich vor, es könne die Missionare ermutigen. Also genehmigte er die vierzig Stühle.

Wir kamen zum Versammlungsort im oberen Stockwerk eines Geschäftshauses, und die vierzig Stühle waren alle besetzt. Einige Leute mussten sogar stehen. Die Missionare hatten es so eingerichtet, dass der erste Bekehrte, ein Mann Mitte Vierzig, der auf einem Fischmarkt arbeitete, die Versammlung leitete. Wir beobachteten, wie sie ihm zeigten, was er tun musste. Von Zeit zu Zeit standen sie auf und flüsterten ihm etwas zu.

Bruder Byish brachte die Versammlung mit ihrer Hilfe nervös hinter sich. Als er dann aufstand, um die Versammlung zu beenden, kam der Geist des Herrn über ihn, und er lehrte ausführlich und mit großer Macht. Es war ein inspiriertes Zeugnis – ein unvergesslicher Augenblick. Die beiden jungen Missionare, Bekehrte aus Südamerika, hatten auf die eine oder andere Weise etwas über die ungeschriebene Ordnung gelernt. Sie stellten die Kirche in Barcelona auf die richtige Grundlage. Jetzt gibt es in jener Stadt vier Pfähle.

So läuft das. Der Herr bedient sich der einfachen Heiligen, sozusagen des Fußvolks, um sein Werk voran zu bringen.

 

Wie seltsam: König und Königskind

und auch der Clown im Zirkus sind

– wie all die andern Männer und Frau’n –

die Bauherrn, die ihre Ewigkeit bau’n.

 

Das Werkzeug bekommt ein jeder mit,

ein Regelbuch, und mit jedem Schritt

formt er den unbehauenen Stein.

Wird’s Stolperstein oder Treppe sein?

– R. L. Sharpe, „Stumbling-Block or Stepping Stone“

 

Die Kirche wird vorwärts gehen, und sie geht nur vorwärts, weil das „Fußvolk“ durch Beobachten, durch Unterweisung und aus Erfahrung lernt. Vor allem aber lernen wir, weil wir durch den Geist bewegt sind. Natürlich werden Sie, die Sie jetzt noch jung sind, eines Tages die Kirche führen. Wenn Sie sich in der Zwischenzeit mit der ungeschriebenen Ordnung befassen und sie kennen lernen, wird die Macht des Herrn auf Ihnen ruhen, sodass Sie ein nützlicher Diener sein können.

Ich bezeuge: Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist die Kirche des Herrn. Wie der Herr sagt, werden alle „im Namen Gottes, des Herrn, ja, des Erretters der Welt, sprechen“ können (LuB 1:20).

Ich rufe seinen Segen auf Sie herab und gebe Ihnen Zeugnis im Namen Jesu Christi. Amen.

bottom of page